Der Blick des Todes:
Mir werden die Augenlieder geschlossen. Von Schwester Anja, mit Daumen und Mittelfinger. Sie war meine Lieblingskrankenschwester. Nicht weil sie so große Brüste hat, nein, wegen dieser Taille – dieser grandiosen Sanduhr-Silhouette. Wobei man sagen muss, im Grunde waren hier auf der Station alle Schwestern ziemlich attraktiv.
Gerade werden mir die ganzen Schläuche abgenommen. Ich glaube ich bin noch ziemlich warm, denn einen wirklichen Temperaturunterschied zu den Händen von Anja kann ich nicht feststellen. Mir wird etwas unters Kinn geschoben und etwas auf mein Bein geklebt. Dann werde ich mit einem Tuch bedeckt. Eine Fahrt im Bett beginnt, Stimmen, ich rolle durch den Flur. Mit dem Kopf vorweg – könnte ich noch sprechen würde ich mich jetzt sofort bei Anja beschweren: Denn es hat etwas unbehagliches. Ich kenne diesen Flur genau. Er ist hellbeige mit diesen orangefarbenen Geländern. An das sich immerwährend alte Wracks klammern, weil sie sich weigern den Rollator zu verwenden. Rollator – klingt aber auch nicht besonders spaßig. Seniorencabrio wäre übrigens mein Namenvorschlag. Wir zweigen ab und bleiben stehen: Vermutlich vor dem Aufzug. Ich höre wie Anja die Taste drückt. Wie ich diese Bilder rechts und links an der Wand gehasst habe. Ich sehe sie genau vor mir, die Baumarktkunst – übelste Baumarktkunst. Ein sanftes Rucken. Der Aufzug öffnet sich. Zwei Erschütterungen, ich bin drin, mit ihrem Schlüssel aktiviert Anja die Abfahrt, ohne Stopps. Ich war zwar noch nie hier, aber ich denke wir sind im Keller. Es ist deutlich zugiger wie oben. Eine Schiebetür wird aufgeschlossen. Ich spüre wie es kühl wird. Das Bett rollt wieder und es wird richtig kalt. Wir halten, Schwester Anja entfernt sich, die Tür schießt und fällt ins Schloss, absolute Stille. Die hat sich nicht mal von mir verabschiedet ... Aber im Grunde hat sich recht. Was soll sie mit mir: Ich bin total leblos. Zudem trennen uns mindestens 50 Jahre. Aber finanziell gesehen bin ich eigentlich immer noch eine ziemlich gute Partie.
Seit vermutlich Stunden befinde ich mich in diesem Klimaraum. Längst ist mein über alles geliebter Körper auf die 5°C Raumtemperatur abgesunken. Mit Grübeln, mit diesen Gedanken, die sich immerfort im Kreis drehen, vertreibe ich mir die Zeit. Im Grunde vielleicht die Einstimmung auf die Ewigkeit? Menschen sprechen, ein Schlüssel dreht sich zwei mal im Schloss, die Tür öffnet sich. »Wenn das mit den Preisen so weitergeht, müssen wir für die Überführung in Zukunft mehr verlangen«. »O d e r die lassen das von »Friede« machen – die haben es ja nicht weit …« entgegnet eine brummige Stimme. Es wird etwas abgestellt. Mein Leintuch wird weggezogen. Mich packen vier warme Hände, mit einem »und hopp« finde ich mich sogleich in einer harten Kiste wieder – vier mal ein kurzes »klack« und sie ist verschlossen. Es riecht nach Polyesterverbund – das kenne ich aus dem Bootsbau. Ich werde angehoben, getragen und verladen. Ein Motor startet. Wir fahren. Ich habe nun jedes Gefühl für Zeit verloren, Zeit was ist das? Einmal halten wir – kurz – danach geht es bei meinen Chauffieren mit vollem Mund weiter. Es wird wohl Mittag sein. Eigentlich praktisch wenn man nichts mehr essen muss. Man bedenke: Fast zwei Stunden habe ich – zu Lebzeiten – damit täglich verbracht. Abgesehen davon, dass Essen wirklich viel Freunde macht, vor allem wenn man auf die Konsistenz achtet, eigentlich dennoch eher umständlich.
Ich beginne mich mit dem Tod anzufreunden. Inzwischen wurde ich übrigens entladen und wieder in einem Klimaraum untergebracht. Zeitlos und leblos liege ich hier. Ziemlich unregelmäßig werden Dinge neben mir abgestellt und geholt. Ich höre Sätze wie »Den baue ich nicht wieder zusammen, dass soll der Azubi machen – dann sind die Mopedfahrer unter sich« oder »uff ist der schwer« …
Wie es hier wohl aussieht. Ich versuche mir den Ort vorzustellen. Seit dem die Kälte Einzug gehalten hat, ist es schwieriger geworden Materialen schnell zu erfassen. Metall mit Gefälle, ich liege nicht eben – mein Kopf ist höher als meine Füße. Ein süßlicher Geruch erfüllt den Raum. Vielleicht bin ich schon soweit, dass er von mir selbst stammt? Vielleicht sind es aber auch die Anderen – die wahrscheinlich genau das Gleiche denken.
Schritte. Musik geht an. Es kommt Jemand näher, Handschuhe werden übergestreift – ein vertrautes Geräusch, ich denke an Schwester Anja. Die Musik ist übrigens Radio, hört sich an wie Bayern 3.
Entkleidet liege ich auf dem Metall-Tisch. Feuchtigkeit, ich werde besprüht. Ein alkoholisch, seifiger Geruch. Während ich abgewischt werde – mit etwas schwammartigem, bin ich in Gedanken bei meinem ersten Auto. Ein roter Käfer. Der Sparfuchs in mit hatte den Schreibenfrostschutz so weit verdünnt, dass der Frost hineinkroch und mir meine Pumpe sprengte. Ja, es riecht etwas nach Scheibenfrostschutz. Mein Kopf wird angehoben und etwas untergelegt. Ssssssssssssssss, ich werde rasiert. Ein Elektrorasierer – ausgerechnet die Letzte Rasur mit so einem Gerät. Dabei weiß doch jeder, nur Nassrasieren ist männlich. Seltsam, selbst jetzt, wo das alles vorbei ist, verfalle ich diesen Denkweisen. Meine Haare werden gewaschen. Ein Fön bläst. Ich habe mich nie geföhnt – lächerlich: Seit Ende zwanzig wird mein Haupt von einem Haarkranz geziert. Es fährt etwas in meine Ohren – Wattestäbchen? Etwas staubiges wird mir in Mund und Nase gestreut. Noch atmend wäre eine Nies-Husten-Attacke sicher gewesen. Wattekissen werden nachgestopft. Licht – sehr hell, schemenhaft erkenne ich einen Menschen. Es wird mir etwas in die Augen geträufelt. Wieder dunkel. Ich bin erschrocken. Damit habe ich nicht mehr gerechnet. Das war aber vermutlich nun das aller letzte Mal, dass ich mit diesen Augen etwas gesehen habe. Klebstoff wird das gewesen sein. Klebstoff, der verhindert, dass sich meine Lieder ungewollt wieder öffnen. Der Blick des Todes. Das mit dem Elektrorasierer ärgert mich immer noch etwas. Aber im Grund ist es wirklich egal. Mir wird noch etwas in den Mund geschoben. Etwas drückt von innen gegen die Lippen. Es klebt fest. Mit ein Paar Handgriffen wird mir etwas übergestreift. »Bayern 3 – Nachrichten« … meine Vermutung war also richtig. Routiniert lausche ich den Nachrichten. Völlig bedeutungslos dieses Gesülze – farblos und lasch. Routine kann so schlimm sein. Ich werde angehoben und weich gebettet, es riecht nach Nadelholz. Das muss der Sarg sein. Der Mensch fummelt an meinen Fingern herum, meine steifen kalten Finger werden gefaltet. Der Deckel ist zu, Bayern 3 verstummt. In der Duftwolke aus Nadelholz werde ich erneut verladen. Ich höre wie noch weiter Kisten rechts, links und über mir abgestellt werden. Es kann sich nicht um einen gewöhnlichen Bestattungswagen handeln. Ich habe nie wirklich darüber nachgedacht: Krematorium oder Erdbestattung. Die Entscheidung habe ich nicht getroffen. Ich weiß nicht, es ist fast ein bisschen aufregend, nicht zu wissen was mich erwartet. Überland – Autobahn – Überland … Es muss ein LKW sein, denn immer wenn wir halten, höre ich dieses für LKWs so typische Zischen der Bremsen. Der anfangs so kräftige Geruch von Nadelholz mischt sich langsam mit meinem süßlichen Körpergeruch – er stammt also doch von mir. Wir halten, Verladen, warten … warten … die Anspannung meines Körpers weicht langsam. Der Sarg wird geöffnet … gedämpfte Orgelmusik. Ich vermute die Trauerhalle. Jeden Moment wird wohl mein Sohn kommen. Sicher wird er Heike und die Kinder dabei haben. Heike habe ich nie wirklich leiden können. Naja, vielleicht kommt sie daher auch gar nicht. Ich habe nie verstanden warum Heinrich sich für diese Frau entschieden hat. Dabei hat er anfangs so gute Partien angeschleppt … und gerade bei dieser Erfüllungsgehilfin der Unfähigkeit musste er hängen bleiben. Ich mag meine Enkel – eigentlich, aber Heike hat immer Stimmung gegen mich gemacht. Eine Tür öffnet sich, die Musik wird abgestellt, der Deckel wieder geschlossen … Heinrich ist nicht gekommen. Ich werde aus dem Sarg gehoben, wieder auf einen Metalltisch. Mein Totenhemd wird abgenommen. Tack, tack- - - tack-tack-tack—tack-tack-tack, tack … Tastenanschläge … Während ein Drucker Papier einzieht werde ich wieder im Sarg untergebracht. Wieder werde ich getragen, abgestellt … der Deckel kurz geöffnet – etwas hineingelegt. Ich höre wie sich etwas öffnet, ein Tor? Mein Sarg und ich fahren, wie auf Schienen. Es wird warm. Kein Zweifel, gleich werde ich kremiert. Das Ofentor schließt sich. Es knackt, Holz verbrennt, harzig riecht es. Bruzzeln, verbranntes Fleisch – ich verbrenne.
Während ich in Tschechien auf einem Rasen verstreut werde, schlendern Heinrich und Heike durch Ikea, die Kinder quengeln.
Meine Entscheidung alles der Stiftung zu vermachen, war richtig.